„Beim Zuhören drängt es einen aus der Kurve“

Interview mit Joe Kaeser

Als ehemaliger Siemens Chef und heutiger Aufsichtsratsvorsitzender von Siemens Energy denkt Joe Kaeser immer an die Stakeholder. Überraschend ist, dass er dabei nicht in erster Linie Aktionärinnen und Aktionäre vor Augen hat. Der vielleicht wichtigste Stakeholder sei heute die Gesellschaft, so der Top-Manager im Interview anlässlich des 20. PAWLIK Congress unter dem Titel „Die neue Empathie“. Unternehmen müssten sich an der gesellschaftlichen Debatte beteiligen und sich mit den Werten der Menschen auseinandersetzen. Was dies genau bedeutet und was es von Führungskräften abverlangt, lesen Sie hier.

Das Interview erschien im PAWLIK Journal „Die neue Empathie“


Was verstehen Sie unter neuer Empathie?

Neue Empathie bedeutet aus meiner Sicht als Unternehmensführer an der gesellschaftlichen Debatte teilzunehmen. Wir müssen akzeptieren, dass die Gesellschaft als vierter Stakeholder eigentlich der wichtigste Stakeholder ist. Denn am Ende gibt sie die Lizenz zum Geschäftemachen. Diese Sicht ist zwar noch nicht weit verbreitet, aber immer mehr Menschen verstehen, dass sie notwendig ist.

Woran machen Sie Ihre These fest?

Für Unternehmen besteht die Herausforderung darin, ein Umfeld zu schaffen, in dem die jungen Leute gerne arbeiten wollen. Wenn wir die Menschen gewinnen wollen, die wir brauchen – und die sind knapp – dann müssen wir uns etwas einfallen lassen. Die junge Generation will beispielsweise wissen, ob eine Firma dieselben Werte vertritt, die ihnen auch wichtig sind. Wenn Sie sich anschauen, wie die Erstwähler bei der Bundestagswahl gewählt haben – nämlich FDP und die Grünen, erkennen Sie, wo die gesellschaftliche Stimmung hingeht. Wir haben zum einen die neo-liberale Strömung, die durchaus gesellschaftsbewusst ist und unternehmerisch etwas leisten will. Und wir haben junge Grüne, die vor der Umweltkatastrophe warnen.

Wie soll das zusammen gehen? Die Schere zwischen jungen Grünen- und FDP-Wählern ist recht groß. Und dann sind da die älteren Mitarbeiter, die noch ganz andere Interessen haben und sich möglicherweise von der digitalen Entwicklung abgehängt fühlen.

Ökologie und Ökonomie zu verbinden, wird herausfordernd, aber dafür gibt es in der Jugend Interesse. Was tatsächlich nicht sehr ausgeprägt ist in der jüngeren Generation,ist die Frage des Sozialstaates. Wie schafft man es, möglichst viele Menschen mitzunehmen und gleichzeitig für diejenigen, die nicht mehr mitkommen, ein Umfeld zu kreieren, in dem sie in Würde ihr Leben leben können. Das bisherige Konzept unseres Arbeitsministers, nur immer mehr Milliarden aus dem Haushalt zu nehmen, wird schon aus der Demografie heraus bald nicht mehr verantwortlich funktionieren. Die Politik wird dann die Unternehmen mehr in die Pflicht nehmen wollen. Daher sollten diese sich ganz schnell in die Demografie-Debatte einmischen. Sehen Sie, alles greift ineinander: die politische, die gesellschaftliche und die unternehmerische Verantwortung.

Das klingt, als wären die Herausforderungen für Manager und Unternehmer nie größer gewesen. Wie würden Sie das einordnen?

Es hat immer wieder große Phasen der Erneuerung gegeben. Meine Erfahrung ist, es gibt Zeiträume von vier bis sieben Jahre, in denen relativ wenig passiert und dann kommt eine Zeit, in der viel passiert. Im Augenblick passiert sehr viel. Die Technologie führt die Menschen auf eine andere Ebene – die Ebene der virtuellen Transformation. Das ist neu, denn im Gegensatz zu den vorherigen drei industriellen Revolutionen spielt sich die Veränderung nicht im physischen Bereich ab. Bei der Entwicklung der Dampfmaschine konnten die Menschen sehen und einschätzen, was auf sie zukommt und ob sie sich das zutrauen. Das geht jetzt nicht mehr und das ist ein Problem. Die physische und die virtuelle Welt wachsen zusammen und die Menschen können sich darunter nicht viel vorstellen. Was ist das genau: der digitale Zwilling, die virtuelle Welt? Wo stehe ich dabei? Das zu vermitteln, ist eine größere Aufgabe als bei einer analogen Veränderung.

Gleichzeitig beschleunigt sich der Wandel. Ist das nicht auch ein Problem?

Das ist der zweite Punkt. Die Technologiesprünge werden größer, was die Mächtigkeit und die Geschwindigkeit der Veränderung betreffen. Wir gehen davon aus, dass wir mit KI und Simulation die Entwicklungszeit eines Produkts halbieren können. Was großartig ist, wenn man zusätzliche Nachfrage findet. Wenn man die aber nicht findet, fielen 50 Prozent der Jobs weg. Zusätzlich schätzen wir, dass die Produktivität durch neue Technologien um bis zu 30 Prozent steigt. Das ist toll für alle, die davon profitieren und schlecht für die, die aus der Wertschöpfungskette herausfallen. Auch diese Entwicklung kann man nur auffangen, indem das Unternehmen entsprechend wächst. Klappt das nicht, wird es in großem Umfang Verlierer geben. Und das wird man gesellschaftlich und sozial nicht hinnehmen können. Sonst haben wir nicht autonom fahrende Autos auf den Straßen, sondern brennende Autos. Insofern ist die Balance wichtig zwischen den technologischen Möglichkeiten, der Regulierung und der Bedarfsdeckung eines Unternehmens. Diese Herausforderung wird anstrengend, zumal wir schwierige geopolitische Faktoren haben, die bisher in dieser Dynamik nicht vorkamen.

Wer werden die Verlierer dieser Entwicklungen sein? Würden Sie das an Generationen festmachen?

Nicht unbedingt zuerst an den Generationen. Die Industriestaaten werden herausgefordert sein, ihren Lebensstandard zu erhalten und gleichzeitig den Entwicklungsländern Freiraum zu geben, ein besseres Leben zu haben. Das ist der große geostrategische Konflikt zwischen Entwicklungsländern, die einen großen Bedarf an Fortschritt haben, und den Industrieländern, die sich auf Kosten der Umwelt ihren Wohlstand bereits erarbeitet haben. Da kann man jetzt schlecht zu Indonesien oder Indien sagen: „Kohle ist nicht mehr, weil wir schon genug CO2 für unseren Wohlstand in die Luft gepustet haben.“ Das werden die ohne akzeptable Optionen nicht hinnehmen. Was die Generationen angeht, wird der Konflikt hauptsächlich das Thema Alters- und Sozialversorgung betreffen. Im Jahr 2038 wird voraussichtlich ein Rentner auf einen Erwerbstätigen kommen. Das ist für die jüngere Generation nicht mehr darstellbar.

Wenn Sie sich die Zukunft der Unternehmen vorstellen: Wie werden wir zusammenarbeiten?

Das ist eine spannende Frage und vieles ist dabei noch nicht vorhersehbar. Während der Pandemie haben wir gelernt, dass viele unserer bisherigen Annahmen nicht richtig waren. Nach dem Motto: „Junge Leute reden gar nicht mehr miteinander. Sie wollen nur noch digital kommunizieren via WhatsApp, Snapchat oder Instagram.“ Das stimmt so nicht. Gerade die Jüngeren sehnen sich nach einem Ökosystem innerhalb ihrer Firma, wo man sich physisch trifft und austauscht, einfach mal ungezwungen miteinander redet. Und dann daraus seine Energie und die Innovationen zieht. Es sind tendenziell eher die Älteren, die gerne mehr im Homeoffice arbeiten wollen. Allerdings wird man im fachlichen Umfeld nicht mehr so viel miteinander sprechen. Wenn die Rechnergeschwindigkeiten wachsen, können Sie Ihre Produkte entwickeln,indem Sie gemeinsam in einer Datenbank arbeiten, ohne dass man miteinander redet. Die KI wird viele der heute bekannten Arbeiten abnehmen. Anwendungen mit bereits hinterlegter Software kommen immer stärker. Dann redet man nicht mehr darüber, wie man Produkte entwickelt, sondern das geschieht alles simultan. Alle Vorgaben aus dem Marketing, Einkauf, Fertigung und so weiter werden automatisch berücksichtigt.

Was bedeutet das aus Ihrer Sicht für Leadership von morgen?

Empathie, Kommunikation, Pädagogik und Psychologie werden künftig eine viel größere Rolle spielen. Die Diskussion und das Integrieren von Meinungen oder das Lösen von Ängsten und Erfüllen von Hoffnungen wird viel stärker gefragt sein als beispielsweise rein technische Fähigkeiten. Nicht mehr die Technologiestrategen werden Unternehmen führen, sondern Menschen, die Zielvorstellungen im Vorfeld moderieren können und selbst unterschwellige Konflikte erspüren. Diejenigen, die Mitarbeitende motivieren können, einen guten Job zu machen. Die, die Kommunikation fördern. Natürlich brauchen wir weiterhin Software-Ingenieurinnen und -Ingenieure, aber in der Führung liegt der Schwerpunkt künftig auf den geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen.

Was würden Sie jungen Leuten konkret empfehlen, damit sie auf die Zukunft vorbereitet sind?

Ich würde ihnen weiterhin raten, zum Beispiel in Richtung Software zu studieren und die digitale Welt zu verstehen. Wie Elektronik funktioniert, wie digitale Simulation funktioniert, wann sie Anwendung findet. Aber nimm ein Fach dazu wie Pädagogik, Psychologie oder Kommunikationswissenschaften. Das ist viel entscheidender als einen fachspezifischen Master draufzusetzen. Empathie zeichnet sich durch die Breite und nicht durch die Tiefe der Kompetenz aus.

Wie wird es zukünftig in puncto Frauen in Führungspositionen aussehen?

Komischerweise ist das ja vor allem in Deutschland so ein Heckmeck. In anderen Ländern läuft das bereits gut. Ein Problem ist, dass wir immer noch mit dem Finger auf Frauen zeigen, die nach der Geburt ihres Kindes schnell wieder in den Job zurückkehren. Und auch auf Männer, die Elternzeit nehmen. Ein anderes Problem ist, dass wir in den MINT-Fächern wie Maschinenbau oder Elektrotechnik zu wenig Frauen haben. Wenn nur fünf Prozent aller Studienanfänger in Maschinenbau weiblich sind, muss man sich nicht wundern, dass da am Ende nur wenig Absolventinnen herauskommen. Dabei ist es so, dass die Frauen, die sich in – nennen wir es mal so – typischen Männerberufen bewähren, viel intelligenter sind als die Männer.

Und trotzdem werden Frauen schlechter bezahlt…

Ja, und das ist ein Unding. Bei Siemens hatte sich eine Zeitlang die ehemalige Personalvorständin Janina Kugel vehement für Equal Pay eingesetzt. Und was wir da oft an vermeintlichen Gegenargumenten gehört haben, war beachtlich. Dazu kommt, dass viele Frauen dann einfach auch keine Lust auf das Gerede haben. Oder auf die Gender-Quotendiskussion, die dann auf sie zukommt, wenn sie eine Führungsrolle innehaben. Das wollen sie sich oft nicht antun.

Lässt sich das Problem denn irgendwie lösen?

Künftig werden Soft Skills eine größere Rolle spielen. Der Punkt ist nämlich: Gerade Frauen, die zum Beispiel auch noch Kinder erziehen, haben eine ganz andere Einstellung gegenüber Fehlertoleranz und Disziplin. Da gilt einfach: There is no room for error. Du hast dein Kind einfach um 16 Uhr von der Kita abzuholen, weil die dann zumacht. Da sind 95 Prozent Erfolgsquote zu wenig. Wenn Manager im Job 95 Prozent eines Businessplans erzielen, sind sie Weltmeister aller Klassen. Dasselbe Phänomen habe ich übrigens auch bei Männern gesehen, die die Kinder erziehen oder sich gesellschaftlich engagieren. Wer im Privaten Verantwortung übernimmt, ist auch im Beruf der bessere Manager oder die bessere Managerin.

Wie empathisch agieren Führungskräfte heute?

Das Schwierigste ist derzeit, dass Empathie intensives Zuhören voraussetzt. An dem Punkt drängt es einen meistens aus der Kurve. Besonders in großen und komplexen Unternehmen muss man im Grunde jeden Tag aufs Neue beinhart priorisieren. Dabei verliert man schnell die Aufmerksamkeit für Themen. Man will sich damit einfach nicht mehr befassen oder hat schon wieder das nächste Meeting und brisantere Themen im Kopf. Und das merken die Menschen. Dieses Zuhören ist also eine ganz schwierige Kiste.

Fällt das in Zeiten von Homeoffice noch schwerer?

Ja, ich finde es schrecklich. Wenn man sich kennt, ist es okay. Dann weiß man, was man voneinander hat. Aber wenn man sich nicht kennt und dann womöglich mit einem Asiaten, Russen oder einem Amerikaner spricht, das können Sie vergessen. Je westlicher die Kultur, desto schwieriger können Sie Empathie über digitale Medien erzeugen.

Wie entwickelt man Empathie, wie haben Sie sie erworben?

Über Kontakte mit Menschen auf allen Ebenen, wenn man sich ernsthaft mit ihnen befasst. Es gibt heute nur noch ganz wenige Vorteile, aus einfachen Verhältnissen zu stammen. Einer liegt darin, dass Sie die Lebenslagen von ganz unten bis nach ganz oben kennenlernen. Wenn Ihnen das halbwegs gelingt, bekommen Sie eine intuitive Kraft und Erfahrung, die man anders nicht lernt.

Sie blicken auf über 40 Jahre Berufserfahrung zurück. Inwiefern haben Ihre Auslandserfahrungen Ihr Gespür für Zwischenmenschliches geschult?

Ich war fast sechs Jahre in den USA an der Westküste und auch in Malaysia. Das waren sehr unterschiedliche Berufserfahrungen, was den kulturellen Hintergrund angeht, und auch die persönliche Entwicklung, die man währenddessen durchläuft. In Asien beispielsweise kommen Sie nicht weit, wenn Sie laut und wild gestikulierend über eine Bühne rennen, um Leute zu mobilisieren. Im Silicon Valley hingegen schon, solange sie nicht zu offensichtlich fremde Ideen kopieren. Das merken die Menschen dort schnell, denn der Geist vom Silicon Valley ist Networking. Und dieses Netz ist so unsichtbar, dass Sie es gar nicht sehen, wenn Sie nicht mittendrin stecken.

Welche Relevanz hatte Empathie, als Sie Siemens saniert haben? Sie haben als Vorstandsvorsitzender den Traditionskonzern radikal umgekrempelt, aber auch viele Stellen abgebaut.

Letztlich hängt der Einsatz von Empathie immer damit zusammen, welche Funktion und welches Thema Sie in einer Firma vor sich haben. Als wir von 2013 bis 2017 Siemens saniert haben, waren Motivationsreden über Aufbruch, Dynamik und Teamgeist nicht so wirklich angebracht. Da gab es nicht so viel zu empowern… Wenn Sie gerade aus verschiedenen Gründen große und damit schmerzhafte Restrukturierungen vornehmen müssen, brauchen Sie nicht mit Teamwork und Empowerment zu arbeiten, sondern mit einer klaren Definition von Zielen und deren Umsetzung. Erst später, wenn das Unternehmen operativ funktioniert, sollte man Teamgeist, Selbständigkeit und Freiheiten fördern. Insofern hängt der Einsatz von Empathie immer von der Aufgabe ab und von dem Ökosystem, in dem man sich befindet. Also sehr situativ und individuell und auf die Aufgabe bezogen. Um in einem Beispiel aus der Sagenwelt zu sprechen: Drachentöten benötigt andere Waffen als Prinzessin erobern.

Als Sie sich Anfang 2021 auf der Hauptversammlung als Siemens-Chef verabschiedet haben, fand das wegen der Pandemie ebenfalls virtuell statt. Fanden Sie das auch schrecklich?

Man muss die Dinge nehmen, wie sie kommen. Das Timing war gut, der Aktienkurs historisch hoch, die Nachfolge geregelt. Wissen Sie, wir hätten ohne Pandemie 8.000 Leute in die Münchner Olympiahalle eingeladen, wo wir standardmäßig unsere großen Events abhalten. Sie hätten vielleicht Beifall geklatscht und sich dann wieder hingesetzt. Äußerlichkeiten sind vergänglich – was man für die nächste Generation bereitet, hält länger. Und die ersten Erfolge davon sehen wir ja gerade bei Siemens.

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Joachim Pawlik

Vorsitzender der Geschäftsführung von
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