„Wahre Empathie heißt, eine Lösung zu finden, ohne das Problem anzusprechen“

Interview mit Daniel Kahneman

7:55 Uhr EST, Daniel Kahneman schaltet sich in New York in unsere Videokonferenz ein. Freundlich sitzt er in seinem tiefen, hellbraunen Ledersessel. Bevor wir mit dem Interview beginnen, einige Worte dazu, warum uns bei Pawlik diese Begegnung besonders freut. Mit seinem Bestseller „Schnelles Denken, langsames Denken“ hat der Nobelpreisträger bereits unseren Congress im Jahr 2012 zum Thema „Langsam – Die Balance der Geschwindigkeiten“ geprägt. Heute befragen wir den Psychologen zur „Neuen Empathie“.

Das Interview erschien im PAWLIK Journal „Die neue Empathie“
Bildrechte über: londonspeakerbureau.de


Herr Professor Kahneman, es gibt viele Definitionen von Empathie. Wie würden Sie sie beschreiben?

Das ist zwar nicht mein Hauptfachgebiet, aber normalerweise verstehen wir unter Empathie das Nachempfinden der Gefühle eines anderen Menschen, also Einfühlungsvermögen.

Als einer der weltweit bedeutendsten Psychologen können Sie Persönlichkeiten sicher professionell einschätzen: Halten Sie sich selbst für einen empathischen Menschen?

Ja! Ich neige dazu, mich in die Lage anderer Menschen hineinzuversetzen. Ich neige sogar dazu, das zu oft zu tun. Meine Frau hat sich immer darüber beschwert, dass ich mich ständig in die andere Seite einfühle. Das tue ich auch dann, wenn ich selbst betroffen bin.

Das tiefe Verständnis für einen anderen Menschen war auch für Ihre Forschung bedeutsam. Die Zusammenarbeit mit Amos Tversky, für deren Ergebnis Sie mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden, haben Sie sogar als „magisch“ bezeichnet. Können Sie uns sagen, was das Besondere an dieser Beziehung war?

Nun, das war eine sehr ungewöhnliche und sehr glückliche Zusammenarbeit. Wir waren enge Freunde. Wir mochten uns gegenseitig und genossen die Gesellschaft des anderen. Wir haben also jeden Tag viel Zeit miteinander verbracht und es war fast immer sehr lustig. Ich bin sonst weniger lustig, aber mit ihm zusammen war ich es auch. Wir haben wirklich die ganze Zeit gelacht. Man kann sagen, dass wir uns beide in vielerlei Hinsicht ähnlich und doch verschieden waren. Man muss eben auch unterschiedlich sein, damit man sich gegenseitig immer wieder überraschen kann. Wir hatten beides. Amos Tversky war meine berühmteste und wichtigste Zusammenarbeit.

Worin genau lag die Magie?

Manchmal sagt man etwas, das man selbst noch nicht ganz versteht, und dann versteht dich die andere Person besser als du dich selbst. Das hat etwas Magisches – und in der Wissenschaft ist es auch noch außerordentlich nützlich. Die meisten von uns stellen fest, dass sie ihre guten Ideen schon lange hatten, bevor sie sie bemerkten. Die Idee war also bereits da, sie haben sie nur nicht erkannt. Wir verstehen nicht immer auf Anhieb, wie wichtig eine Idee ist und was man daraus entwickeln kann. Manchmal dauert es Jahre, bis man wirklich versteht, was man da gesagt hat. Im Fall von Amos hatte ich häufig eine halbe Idee und er sah sofort, was man damit machen könnte. Das war der Zauber unserer Zusammenarbeit. In geringerem Maße habe ich das auch mit anderen Menschen erlebt. In dieser Beziehung hatte ich in meinem Leben wirklich großes Glück.

Irgendwann waren Sie und Amos Tversky aber an unterschiedlichen Universitäten tätig und arbeiteten auf großer räumlicher Distanz. War diese Trennung so etwas wie ein Game Changer?

Oh ja. Ein paar Jahre lang haben wir es aus der Ferne geschafft, weiterzumachen und den Schwung aufrechtzuerhalten. Wir haben uns alle zwei Wochen gesehen. Einer von uns reiste über das Wochenende zum anderen. Und wir haben jeden Tag telefoniert. Aber irgendwann haben wir die Magie verloren.

Lassen Sie uns Ihrem Forschungsgebiet der Entscheidungsfindung nähern. Wie sehen Sie hierbei die Rolle von Empathie?

Sehr viele Entscheidungen betreffen andere Menschen. Die Fähigkeit zu erkennen, wie diese Menschen darauf reagieren, ist für das Ergebnis zentral und erfordert Empathie. Der Bedarf an Empathie ist am größten, wenn Veränderungen in einer Organisation eingeführt werden. Gerade dann fehlt es aber häufig an Einfühlungsvermögen, und zwar auf eine besondere Art und Weise.

Wie meinen Sie das?

Jede Veränderung führt dazu, dass einige Menschen zu Verlierern werden und andere zu Gewinnern. Das ist unvermeidlich. Aus der Entscheidungsfindung wissen wir aber, dass Verlierer viel härter kämpfen als Gewinner. Sie wollen unbedingt vermeiden zu verlieren. Dessen sind sich die Leute, die Reformen entwerfen, oft nicht bewusst. Sie denken bereits an das Ziel, in dem sich alle an die neue Situation gewöhnt haben und die Vorteile der Veränderungen offensichtlich sind. Sie denken aber nicht an die unmittelbaren Reaktionen auf ihre Veränderungen. Das Problem bei Reformen ist also der kurzfristige Widerstand. Er ist ein Grund, warum viele Reformen scheitern und warum fast alle teurer sind als erwartet. Weil man die Verlierer entschädigen muss.

Das Problem dürfte in Zeiten schnellen Wandels höchst relevant sein.

Ja sicher. Wir erleben einen star-ken technologischen Wandel – und dagegen gibt es eine Menge Widerstand.

Vor allem aus der älteren Generation.

Sie ist dabei jedenfalls im Nachteil. Der Vorteil der älteren Generation ist die Erfahrung und ich glaube, dass dieser Vorteil im Verhältnis zu technologischen Fähigkeiten abnimmt. Das ist gut für die Jüngeren, denn sie kennen die Vergangenheit nicht, und schlecht für die Älteren, denn sie waren vorher die Experten.

Macht das Homeoffice es für Entscheider heute schwieriger, die Widerstände unter ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wahrzunehmen?

Ich bin der Auffassung, dass der wichtigste Widerstand gegen Veränderungen oft ohnehin gar nicht klar artikuliert wird. Er wird nicht ausgedrückt, weil sich die Leute unterbewusst dafür schämen. Sie sind davon überzeugt, dass es für ihre ablehnende Haltung keine Rolle spielt, dass sie mit der neuen Technik Status und Prestige verlieren. Sie denken einfach, dass die neue Idee wirklich schrecklich ist. Deshalb geht es auch nicht so sehr um ein Einfühlungsvermögen in dem Sinne, dass man die Mimik oder Gestik eines Menschen beobachtet und darauf reagiert. Die Art von Empathie, die ich für wichtiger halte, besteht aus etwas anderem. Wenn man an eine Veränderung denkt, geht es darum, sich zu fragen: Wer wird diese als Gewinn ansehen und wer als Verlust? Denn die Menschen, die Ihren Vorstoß als Verlust empfinden, sind Ihr Problem. Wenn es offensichtlich ist, dass sie etwas verlieren, dann kann man ja noch darüber reden. Aber wenn es nur eine vage Sache ist, dass sie zum Beispiel ihren Status im Vergleich zu Jüngeren verlieren, ist das viel schwieriger. Echtes Einfühlungsvermögen bedeutet, dass man eine Lösung findet, ohne jemals darüber zu sprechen.

Das ist anspruchsvoll. Denn wenn man das Problem beim Namen nennt, wird die Situation noch schlimmer.

Ganz genau. Wenn es um persönlichen Status innerhalb der Organisation geht, wenn es darum geht, gefragt zu sein, im Mittelpunkt zu stehen und Einfluss zu haben, dann ist es sehr wichtig, einen Weg zu finden, ohne mit den Betroffenen über diese Themen zu sprechen. Dafür brauchen wir Empathie.

In Ihrem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ unterscheiden Sie zwei Denksysteme in unserem Gehirn. Das schnelle System arbeitet eher intuitiv, das langsame analytisch. In welchem System ist die Empathie angesiedelt?

Wissen Sie, es gibt eine Form der Empathie, die jeder hat. Wir sehen jemanden, der Schwierigkeiten hat, eine Tür zu öffnen und helfen ihm. Dies ist eine Art von automatischem Einfühlungsvermögen und das funktioniert schnell und intuitiv. Aber das interessantere Einfühlungsvermögen, von dem ich im Zusammenhang mit der Abneigung gegen Verluste, Reformen und Veränderungen spreche, ist das langsame Denken. Dafür müssen wir uns aktiv in die Situation des anderen hineindenken. Das kommt nicht von selbst. Dafür müssen wir uns anstrengen.

Wenn es an der Empathie manchmal fehlt: Kann Künstliche Intelligenz uns diese Überlegungen künftig abnehmen?

Auf jeden Fall. Ich bin mir ziemlich sicher, dass in einem Jahrzehnt oder in 15 Jahren Künstliche Intelligenz im Verstehen von Menschen besser sein wird als der Mensch selbst. Sie wird Gesichtsausdrücke besser lesen, den Tonfall besser verstehen und auch wenn es darum geht, vorherzusagen, wie ein Gespräch emotional abläuft, ist die Künstliche Intelligenz eindeutig im Vorteil.

Wie kann man sich diese Entwicklung vorstellen?

Ein Roboter folgt einer Familie, beobachtet ihre Mimik und sieht, wann sie sich streiten oder Zuneigung zeigen. Dann lernt der Roboter etwas über diese Familie. Der Punkt bei der Künstlichen Intelligenz ist, dass man 100.000 Roboter in 100.000 Familien hat, diese alle mit einer Zentrale sprechen, die all diese Erfahrungen sammelt. Sobald man also verteiltes Lernen in der Künstlichen Intelligenz hat, wird man eine Explosion des Wissens über Gesichtsausdrücke und emotionale Ausdrücke in der KI erleben. Das ist wirklich nur eine Frage der Zeit – und nicht einer langen Zeit.

Und wann wird Künstliche Intelligenz Geschäftsentscheidungen treffen?

Ich denke, es ist auch nur eine Frage der Zeit, bis Künstliche Intelligenz beginnt, Geschäftsentscheidungen zu analysieren. Und dann wird es gefährlich. Es ist einfach, KI als ein Werkzeug zu betrachten, das den Menschen unterstützt. Aber sie wird ziemlich schnell besser als der Mensch sein. Und dann kommt es zu einem viel schwierigeren Problem. Ich weiß nicht, wie Führungskräfte darauf reagieren werden.

Lassen Sie uns zu Ihrem jüngsten Buch kommen. Sie haben „Noise“ während der Corona-Zeit geschrieben. Wie hat das Ihre Zusammenarbeit mit Ihren Co-Autoren beeinflusst?

Für das Buch war es ein Glück. Denn dank des Virus sind wir schneller fertig geworden. Wir hatten uns vorher immer gegenseitig besucht. Olivier Sabony kam nach New York, ich flog nach Paris, aber dann konnten wir nicht mehr reisen. So verbrachten wir jeden Tag eine oder anderthalb Stunden über Zoom miteinander. Und das erwies sich als viel effizienter. (Kahneman macht eine Pause)

Sie scheinen zu zögern.

Ja, weil ich gerade aus Paris zurückgekommen bin, wo wir uns öfter getroffen haben. Das hat mir Lust auf mehr gemacht. Ich habe gemerkt, wie angenehm es war, in seiner Gesellschaft zu sein. Nach dieser Woche erscheinen mir die entfernten Kontakte weniger befriedigend.

Wäre das Ergebnis Ihres Buchs ein anderes gewesen, wenn Sie sich weiterhin besucht hätten?

Nicht unbedingt. Wir kannten und mochten uns, bevor wir in die Fernzusammenarbeit gingen. Ich denke, das Problem mit der Fernarbeit besteht darin, neue Leute zu integrieren. Aber ein bestehendes Team kann recht effizient aus der Ferne arbeiten.

Nun haben Sie also einen neuen Bestseller veröffentlicht. Woran arbeiten Sie jetzt und welches große Rätsel würden Sie gerne noch lösen?

Ich bin 87 Jahre alt, ich langweile mich nicht. Ich bin an einigen Dingen beteiligt. Aber ich habe nicht vor, ein neues großes Rätsel anzugehen. „Noise“ würde ich schon als ein verfrühtes Buch bezeichnen, weil ich mich erst vor sechs oder sieben Jahren für das Thema zu interessieren begann. Das ist eigentlich zu kurz. Die richtige Reihenfolge wäre: Man interessiert sich. Man forscht 10 Jahre lang und schreibt dann, wenn die Forschungsergebnisse interessant sind, ein Buch. Aber ich war 80, als ich anfing, und ich wusste, dass ich keine Zeit hatte. Jetzt denke ich also über die Forschung zu „Noise“ nach, die wir noch nicht gemacht haben und möchte dies vertiefen.

In „Noise“ geht es um die Frage, was Entscheidungen verzerrt und wie wir sie verbessern. Der Begriff „Noise“ bedeutet hier so viel wie „Rauschen“ oder „Störgeräusche“. Warum sollten CEOs und Manager das Buch lesen?

Ich denke, dass dieses „Rauschen“ ein sehr wichtiges soziales Phänomen ist, das den Menschen innerhalb einer Organisation noch nicht bewusst ist. Wenn verschiedene Personen Entscheidungen für die Organisation treffen, ist es sehr wichtig, dass sie mit einer Stimme sprechen. „Noise“ bedeutet aber, dass die Organisation mit verschiedenen Stimmen spricht. Entscheidungen fallen von Mitarbeiter zu Mitarbeiter unterschiedlich aus und hängen mitunter von höchst irrelevanten Faktoren ab – von ihrer Stimmung, dem Wetter oder wann sie das letzte Mal ge gessen haben. Das hat unmittelbar negative Auswirkungen.

Haben Sie dafür Beispiele?

Jeder Einzelne von uns ist von „Noise“ betroffen. Wenn im medi zinischen System „Noise“ entsteht, kann das Nachteile für die Patienten haben. Ähnlich verhält es sich in der Justiz: Wenn verschiedene Richter in vergleichbaren Fällen eklatant unter schiedliche Urteile fällen, dann ist auch das ein erhebliches Problem. Wir erwarten konsistente Entscheidungen, aber Menschen entscheiden eben nicht zuverlässig. Generell gilt, dass „Noise“ Kosten verursacht. Deshalb sollten gerade Führungskräfte verstehen, worum es dabei geht. „Noise“ ist kein einfaches Buch. Aber es ist – für die meisten Menschen – ein neuer Gedanke.

Über Daniel Kahnemann:

Daniel Kahneman wurde 1934 in Tel Aviv geboren und wuchs in Frankreich auf. Als Erster seines Fachs wurde der israelisch-US-amerikanische Psychologe 2002 mit dem Wirtschaftsnobelpreis geehrt. Er erhielt die Auszeichnung für die „Prospect Theory“, die er gemeinsam mit Amos Tversky (*1937; †1996) entwickelt hatte. Die beiden Wissenschaftler hatten erforscht, wie Individuen in Situationen mit Risiko entscheiden. Demnach wenden wir beispielsweise deutlich mehr Energie auf, um Verluste zu vermeiden als Gewinne zu erzielen. Daniel Kahneman lehrte bis zu seiner Emeritierung an verschiedenen namhaften Universitäten, zuletzt in Princeton. Mit dem Buch „Thinking, Fast and Slow“ schrieb er 2011 einen Welt-Bestseller. Charmant lässt er seine Leserinnen und Leser in Denkfallen tappen und erklärt ihnen ihre Entscheidungsmuster. 2021 veröffentlichte Kahneman mit Olivier Sibony und Cass R. Sunstein „Noise: Was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern.“ Daniel Kahneman gilt als einer der weltweit einflussreichsten Psychologen und Ökonomen.

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Joachim Pawlik

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